Inhaltsverzeichnis
Shiva im Shivaismus
In den shivaitischen Kulten ist Shiva das höchste Wesen, das alle anderen Götter an Macht überragt und sie zudem erschaffen hat. Die Wesen und die Welt sind dem Wandel unterworfen, nur Shiva allein ist unvergänglich, ewig und die Fülle des Absoluten. Er ist der Urgrund des Daseins. Er trägt verschiedene Namen, die von seiner Größe zeugen wie Mahadeva (der Große Gott), Ishvara (der Herr), Maheshvara (der Große Herr), Prameshvara (der Höchste Herr). Trotz seiner Funktion als absolute Existenz und Allgott weisen die Mythen ihn jedoch immer auch als furchtbaren Gott und großen Asketen aus, der sich entsetzlichen Kasteiungen hingibt und der Natur verbunden ist. Er ist der Geist (Purusha), das Wesen der gesamten manifestierten Welt (Prakriti) und die Antriebskraft dieser Welt. Ihm allein ist es vorbehalten, die Welt entstehen und vergehen zu lassen. Nach dem von ihm periodisch herbeigeführten Weltuntergang bleibt nichts bestehen außer Shiva selbst und zyklisch erschafft er neue Universen durch die Maya seines Yoga aus der der Lotos enststeht, aus welchem Brahma hervortritt. Das gesamte Universum wird als aus dem Tanz des Shiva Nataraja entstehend und in ihm vergehend gedacht. Sein Tanz erhält die Welt und erlöst die Seelen. Er führt seinen Tanz von Göttern umgeben im Himalaya auf, als zehnarmiges von Dämonen und Devi umgebenes Wesen auf Leichenstätten und in den goldenen Hallen des Chidambaram-Tempels, dem Mittelpunkt des Universums. Sein Tanz symbolisiert seine fünffachen Qualitäten der Evolution: das Erhalten, das Zusammenziehen, das Verhüllen (der Seelen im Samsara), das gnadenreiche Annehmen der Gläubigen und das Schenken von Frieden und Erlösung. Er enthält als Absolutes die Paradoxa von ungebändigter, wilder und grausamer Natur und höchster Weisheit und tiefstem Frieden. In vielen Darstellungen wird der Gott als halb weiblich, halb männlich als Ardhanarishvara verehrt, der eins ist mit seiner Shakti, seiner weiblichen Seite.
Die Kulte des Shivaismus
Während der Vishnuismus sein Hauptaugenmerk auf die liebende Verbundenheit von Mensch und Gott richtet (siehe Bhakti) , legen einige Richtungen des Shivaismus großen Wert auf die Möglichkeit des Menschen eins zu werden mit Gott. Einige Richtungen sehen die Erlösung in der Gewinnung eines Shiva-ähnlichen Zustandes und eines fortwährenden Kontaktes mit ihm. Die meisten shivaitischen Gruppierungen nehmen ein philosophisch-theologisches System als gültig an, das drei ewige Prinzipien kennt: Pati, der Herr (Shiva), Pashu, das Vieh (die individuelle Seele) und Pasha, die Fessel (die Materie und das Karma). Um in Kontakt mit Shiva zu kommen, muss sich die Seele von den Fesseln des Karma und der Materie befreien und dem Zustand des Shiva ähnlich werden, d.h., an seine Macht und Kenntnis heranreichen und der Möglichkeit allen Leidens entronnen sein. Es gibt zahlreiche unterschiedliche shivaitische Gruppierungen und viele von ihnen praktizieren Lehren des Yoga und des Tantra. Auch strenge antinomistische Askese ist gebräuchlich, z.B. unter den Kalamukhas und Kapalikas. Die Bewegung der asketischen Natha-Yogis, deren Ursprung ungeklärt ist, scheint Elemente des Buddhismus zu beinhalten. Das Ziel der asketischen Natha-Yogis ist es den Zustand des Sahaja-Samadhi zu erreichen, in dem der Yogi in vollständiger Ruhe mit dem Universum eins ist und jeglichem Irdischen entrückt zugleich Shiva, Shakti, Lehrer, Schüler, Meditation, Meditationsobjekt und Meditierender ist.
Kashmirischer Shivaismus
Kashmirischer Shivaismus
Shaiva Siddhanta
In Südindien entwickelte sich der Shaiva-Siddhanta im 8. bis 13. Jahrhundert unter den südindischen Draviden. Die heilige Literatur dieser Richtung besteht aus elf Sammlungen von Gedichten, dem im 10. oder 11. Jahrhundert redigierten Tirumurai, das von Shiva-Bhakti handelt und dem Periyapuranam, in dem das Leben shivaitischer Heiliger beschrieben wird. Die Texte werden den Kindern gelehrt und zuhause, in den Tempeln und während der Prozessionen gesungen. Der Shaiva-Siddhanta verwirft den Monismus und geht von einer ewigen Existenz der Seelen (Purusha) und der Welt (Prakriti) neben Gott aus. Dies basiert im wesentlichen auf den Ideen der dualistischen Samkhya-Philosophie. Im Gegensatz zu Shankaras Advaita Vedanta sind hier Shiva und Welt nicht identisch, existieren aber auch nicht unabhängig voneinander. Die Ursache der Welt ist die Maya, die Kraftsubstanz, durch die die Welt und alles Ungeistige hervorgerufen werden und dieses Dasein wird als Mayeya bezeichnet, welches Shiva aus der Maya entstehen ließ und in dem er durch seine Shakti wirkt. Die Seelen wurden dem Shaiva-Siddhanta gemäß in die Welt hineingesetzt, um es ihnen zu ermöglichen, die ihnen anhaftenden Unreinheiten abzulegen. Hier besteht ein Unterschied zu anderen Schulen, die annehmen, das Universum sei Shiva Natarajas Tanz, also sein Vergnügen. Die fünf Funktionen Shivas sind Evolution, Instandhaltung, Involution, erbarmungsvolles Verurteilen zum Samsara und Reinigung und Assimilation der Seelen. Dass die Seelen sich als begrenzt erleben, wird durch Anavamala verursacht, Betörung und geistige Finsternis, die das Karma bedingen, welches die Seele an die Existenz fesselt. Shiva ist Sat, Cit, Ananda, absolute Existenz, grenzenloses und allgegenwärtiges Wissen, bzw. kosmische Intelligenz und vollkommenen Seligkeit, bzw. absolute Harmonie. Shiva handelt in der Welt durch seine weibliche Energie, die Shakti.
Die Reinigung der Seele, die nötig ist, um das Karma zu überwinden und das Anavamala zu beseitigen, um in den reinen Shuddha-Zustand zu gelangen, besteht aus drei Stufen:
der fromme Wandel, in dem die Seele einen Gottesdienst vornimmt, durch Winden von Blumengirlanden für den Gott, Lobpreisung, Anzünden von Lichtern, Tempelreinigung u.ä. Kulthandlungen wie die Anbetung eines und Versenkung in ein Gottesbild und die Darbringung von Brandopfern und Yoga, d.h., Konzentration, Selbstbezwingung und Meditation mit dem Ziel der Erleuchtung Dies bedeutet hier, dass Shiva seine Shakti als Arul-Shakti ("Erleuchtung verleihende Shakti") sendet und der Adept Shiva als transzendent und immanent erkennt und sich ihm hingibt in der Weise, dass auf eigene Individualität und Aktivität verzichtet wird und so das Karma aufgelöst wird. Es wird jedoch betont, dass hierzu ein Guru vonnöten ist, ein vollkommen erleuchteter Lehrer. Abgesehen von Meditations-, Yoga- und Tantrapraxis der shivaitischen Yogis besteht der allgemeine in den Puranas beschriebene Shivaismus aus Andacht, Gebet, Mantrarezitation, Abhalten von Zeremonien und Ritualen in Tempeln und auf von Shiva bewohnten Bergen wie dem Kailash und dem Darbringen von Geschenken wie Blumen, Räucherwerk, Gewändern, Sonnenschirmen und ähnlichem. Neben dem kultischen Shivaismus gibt es auch einen devotionalen und poetischen Shivaismus, der sich in Nachfolge bestimmter Mystiker entwickelte, wie z.B. die Bewegung der Lingayats oder Vira Shaivas. Auch der Dashanami Sampradaya (siehe Hinduistische Orden), der im 8. Jhd. n.Chr. von Shankara begründet wurde, wird von vielen zu den Shaivas gezählt, und einige Untergruppen sind eindeutig den Shaivas zuzuordnen. Die philosophische Ausrichtung dieser Gruppen ist ähnlich dem kaschmirischen Shivaismus vornehmlich monistisch. So ist die Hauptschrift der Juna Akhada, die Avadhut Gita, ein radikal monistisches Werk.